Kunst als Einladung: Was sehen wir?

Sehen bedeutet, dass unser Auge zunächst einmal die Außenwelt abbildet. Dieses Abbild wird dann in unserem Gehirn „prozessiert“. Hierbei wird das Bild abgeglichen mit in unserem Gehirn gespeicherten Informationen, die ein ähnliches Muster zeigen.
Autor
Walter Pfefferle
Veröffentlicht
23/5/2022
Lesezeit
2 Min.
Kategorie
Schwarz/Weiß-Fotografie

Über die Vorgänge, die sich beim Betrachten eines Kunstwerks in unserem Kopf abspielen

Sehen bedeutet, dass unser Auge zunächst einmal die Außenwelt abbildet. Dieses Abbild wird dann in unserem Gehirn „prozessiert“. Hierbei wird das Bild abgeglichen mit in unserem Gehirn gespeicherten Informationen, die ein ähnliches Muster zeigen.

Durch diesen Abgleich mit früheren Informationen nutzen wir unseren kompletten Erfahrungsschatz, um die Gegenwart zu verstehen. Dies hilft uns sehr, um schnell einordnen zu können, ob eine Situation günstig oder bedrohlich ist, ob wir uns damit beschäftigen wollen oder eben nicht.
Dieser Abgleich erfolgt nun mittels „menschlicher Intelligenz“.

Hier ein Beispiel anhand einer Schwarz-weiß Photographie

Wir sehen auf diesem Bild eine Frau mit Kinderwagen, eine Parklandschaft mit dunklen Bereichen, eine große Ente sowie unbeteiligte Personen am Rande.

Beim Aufrufen dieser Elemente in unserem Gedächtnis werden nun nicht nur diese Inhalte selbst abgerufen, sondern auch der emotionale und inhaltliche Kontext, in dem "damals" das jeweilige Bild abgespeichert wurde.
Je stärker die damalige Emotion war, desto besser erinnern wir uns daran, desto stärker drängelt sie sich beim Betrachten des Bildes in den Vordergrund.
Ein Betrachter wird sich also vielleicht an sehr emotionale Quietsche-Enten-Situationen erinnern, eine andere Person an Märchenerzählungen der Kindheit mit wundersamen Begegnungen im dunklen Wald.

Sehen ist somit immer ein sehr individueller Vorgang, der die persönliche Vergangenheit mit dem Gesehenen verknüpft.

Was erregt unsere Aufmerksamkeit?

Nun kommt noch ein weiterer Aspekt dazu. Unser Gehirn möchte uns sicher und erfolgreich durch das Leben führen und prüft unwillkürlich, ob das Gesehene zusammenpasst, einen "Sinn" ergibt.
Dinge, die sich nicht schnell einordnen lassen, können ja potentiell bedrohlich sein. Oder aber auch die Chance auf einen Vorteil bergen, wenn wir uns damit beschäftigen, den Sachverhalt zu verstehen (ob etwas als Bedrohung oder Chance wahrgenommen wird, ist sicherlich häufig eine Frage der Persönlichkeit).
Somit hakt sich unsere Aufmerksamkeit an scheinbar Nicht-Passendem fest, die Neugier wird geweckt. "Surreale" Aspekte, kleine "Störungen" können uns somit beim Sehen helfen.

Kunst als Einladung

Kunst aus unserer Sicht hat immer den Anspruch, beim Betrachten des Kunstwerks über das unmittelbar zu Sehende hinauszugehen. Ein Kunstwerk ist eine Einladung, Neues in scheinbar Bekanntem zu sehen.

Bei Interesse, sich diesem Thema etwas tiefer zu nähern, hier als Appetithappen ein Auszug aus der Einleitung eines wissenschaftlichen Artikels:


Claire O’Callaghan et. al, Conscious Cogn. 2017 January ; 47: 63–74. 

Predictions penetrate perception: Converging insights from brain, behaviour and disorder

Visual perception is not a passive or exclusively stimulus-driven process. Instead, there is a proactive interplay between incoming stimuli and predictions based on internally generated models, which shapes our conscious perception of the world around us (Bar, 2004; Bullier, 2001; Engel, Fries, & Singer, 2001). This enables our perceptual system to harness a lifetime of experience with the world, leveraging our past to aid our interpretation of the present.