Mythen – Nur eine Sache für Historiker?

Die Beschäftigung mit den Mythen der Menschheit ist nach wie vor aktuell, da die für Mythen ursächliche Grenze vom Wissen zum Nichtwissen zwar permanent verschoben wird, an dieser Schwelle jedoch auch heute noch Erzählungen voller Sehnsucht entstehen.  
Autor
Walter Pfefferle
Veröffentlicht
3/9/2022
Lesezeit
3 Min.
Kategorie
Schwarz-weiß-Fotografie

Gedanken zu Mythen vergangener Tage und im aktuellen Kontext

Wir haben seit Menschengedenken unser kollektives Gedankengut, Wissen und Selbstverständnis in Erzählungen kondensiert und diese von Generation zu Generation weitergetragen.

Diese Erzählungen umfassten die jeweiligen Wunschbilder, Sorgen und Ängste flossen ein, die Erfolge der jeweiligen Gruppe wurden identitätsstiftend thematisiert, die Geschichten wurden ausgeschmückt, es entstanden Mythen.

Wir kennen derartige Mythen aus den unterschiedlichsten Kulturräumen; prominente Beispiele sind die nordischen Sagen, die biblischen Geschichten, die chinesische Mythologie, die griechischen Göttersagen und noch viele mehr.

Bei vielen dieser Erzählungen legt die Forschung nach und nach die historische Stätte offen, so dass ein „wahrer Kern“ verifiziert werden kann, um den dann die Erzählung ausgestaltet wurde. Gleichermaßen sind nahezu alle Mythen seit Menschengedenken in Bildern wiedergegeben worden. Sie haben immer wieder Künstler inspiriert, das Erzählte zu visualisieren.

Mythen eignen sich hierzu besonders gut, da neben dem faktischen Kern sehr viel kreativer Raum für die jeweilige Interpretation gegeben ist und eine persönliche Sichtweise eingebracht werden kann, wenn auch im jeweiligen kulturellen Kontext.

Dieser Aspekt ist für Künstler bis heute reizvoll, tradierte Mythen wieder aufzugreifen und im Wissen um die historische Rolle mit einer persönlichen Interpretation neu sichtbar zu machen.

 

Welche Mythen erzählen wir uns heute?

Wenn wir uns die Ausführungen von oben nochmals vornehmen, so ahnen wir schnell, dass wir auch in unserem aufgeklärten Zeitalter Erzählungen pflegen, die uns an die Mythen unserer Vorfahren erinnern können.

Vor noch nicht allzu langer Zeit zogen Neurowissenschaftler in Zweifel, ob wir eigene Entscheidungen treffen können oder unser Gehirn die Entscheidung nicht schon lange gefällt hat, wenn wir glauben zu entscheiden.

Wir glaubten zu wissen, dass unser Schicksal durch die Gene bestimmt ist, wir sozusagen nur Handlanger von egoistischen Genen sind.

Heute neigen wir zu der Ansicht, dass diese Haltungen Mythen gewesen sind, dass wir sehr wohl unsere Entscheidungen treffen können, und dass wir in der Lage sind, unser eigenes Denken zu prägen.

In der Genetik würden wir heute unser persönliches Genom eher als Optionsraum beschreiben und sind der Meinung, dass wir durch unser eigenes Zutun mitprägen, was aus uns wird. Die zugehörige Wissenschaft der Epigenetik hält hier viele Erklärungen bereit, die diese Ansicht stützen.

Soweit so gut. Wir lernen also dazu. Sind damit die Mythen passé?

Keinesfalls.

Nachdem wir eben gelernt haben, dass wir durch unseren Lebensstil und Verhalten unsere Physiologie beeinflussen können, träumen wir nun davon, dass wir uns damit neu erfinden können, wenn wir dies nur richtig anstellen. Wir möchten gerne hören, dass wir unsere Grenzen stark verschieben können, wir mit einer personalisierten Ernährung 100 Jahre alt werden, dass die Geschlechter ein Kontinuum sind und wir mit der geeigneten Herangehensweise nahezu jeden Zustand erreichen können, den wir anstreben.

Wir arbeiten also mit großem Eifer an neuen Mythen, immer wieder an der Grenze von Wissen und Wünschen, verbunden mit der Suche nach dem persönlichen Glück in dem heute passenden gesellschaftlich Rahmen.

 

Was bedeutet das für unser künstlerisches Schaffen?

Die Beschäftigung mit den Mythen der Menschheit bleibt somit aktuell, da die Grenze vom Wissen zum Nichtwissen durch den wissenschaftlichen Fortschritt zwar immer weiter verschoben wird, an dieser Schwelle jedoch auch heute noch einer erträumten Welt eine Gestalt gegeben wird.

Häufig werden diese erträumten Welten spirituell aufgeladen, dann ist der Weg von den Mythen in die Mystik nicht weit.
Ernährung, Sport und die Beschäftigung mit der eigenen geschlechtlichen Identität können religiöse Züge annehmen, da Mythen und Mystik einen stark identitätsbildenden Charakter haben.

Somit ist die künstlerische Auseinandersetzung mit den Mythen der Menschheit für uns ein großes Thema, völlig unabhängig davon, ob es jahrtausendalte Mythen sind oder Narrative aus der heutigen Zeit.

Aktuell haben wir unsere Ausstellung im Rahmen der „Kunst in Licher Scheunen“ dieser Thematik gewidmet.
Wir zeigen Bilder, die mystische christliche Symbolik der Sowjetdiktatur entgegensetzen, Bilder mit biblischen und nordischen Motiven sowie Interpretationen des heutigen astronomischen Wissens über die Weiten des Universums.

Die gezeigten bildhaften Zitate sollen vor dem inneren Auge der Betrachtenden Bilder entstehen lassen, die an die eigenen spirituellen Erlebnisse anknüpfen und sie auf eine ganz persönliche Reise aufbrechen lassen.

Mythen sind somit nicht nur für Historiker eine spannende Angelegenheit.