Selbst-Erneuerung

Verjüngung, Selbsterneuerung, ... Schlagworte, die wir häufig hören. Vor einigen Jahren sagte mir ein Bekannter: Du musst Dich alle 5 Jahre neu erfinden. Heute weiß die Biologie, was er gemeint hat. Und wir können dies in unserer Umgebung sehen!
Autor
Walter Pfefferle
Veröffentlicht
23/1/2023
Lesezeit
7 min
Kategorie
Kunst und Wissenschaft

Die Anforderungen an uns steigen im Laufe unseres Lebens

Unsere Umwelt im privaten und beruflichen Alltag wird komplexer. Insbesondere im Beruf wird uns abverlangt, dass wir uns in einer Umgebung bewegen können, die technisch anspruchsvoll ist, da zunehmend einfache Vorgänge durch Automatisierung bzw. mit künstlicher Intelligenz ausgestatteter Software  übernommen werden.

Diesem Thema hat sich die OECD intensiv gewidmet, der Status quo und die Herausforderungen wurden klar herausgearbeitet.

Einerseits haben wir die Notwendigkeit, in einer technisch komplexen Umgebung zurechtzukommen, andererseits zeigt die Analyse, dass ältere Leute deutlich weniger Fähigkeiten haben, in dieser Umgebung produktivzurechtzukommen.

(aus: Ageing and Employment Policies Working Better with Age, p.67
Source: OECD (2016), Skills Matter: Further Results from the Survey of Adult Skills, OECD Skills Studies, OECD Publishing,Paris, https://doi.org/10.1787/9789264258051-en.

 StatLink https://doi.org/10.1787/888933991508

 

Hier kommen 2 Faktoren zusammen.

Auf der einen Seite hat sich in den letzten Jahren der technologische Fortschritt massiv beschleunigt, die Arbeitsabläufe und Lebensroutinen ändern sich in kurzer Zeit, wir müssen in kurzen Zeitabschnitten neue Technologien und Vorgänge in unseren Alltag integrieren.

Auf der anderen Seite fällt es uns mit zunehmendem Alter schwerer, uns auf neue Dinge einzustellen, dahinter steckt der biologische Prozess des Alterns, unsere Gedächtnisfähigkeit und Lernfähigkeit nehmen ab.

Natürlich stellt sich da die Frage, was tun? Ist dies eine hoffnungslose Konstellation?

Was sagt die Biologie dazu?

Zur Beantwortung dieser Frage habe ich mich ein bisschen in der wissenschaftlichen Literatur umgeschaut und bin auf folgende Publikation gestoßen:

Zocher, S., Overall, R.W., Lesche, M. et al. Environmental enrichment preserves a young DNA methylation landscape in the aged mouse hippocampus. NatCommun 12, 3892 (2021).

(Eine stimulierende Umgebung erhält die junge DNA Methylierungslandschaft im Hippocampus von gealterten Mäusen)

Was die Forschenden da herausgefunden haben, ist nahezu fantastisch.

In dieser Publikation wird bei Mäusen gezeigt, dass eine stimulierende Umgebung dem biologischen Altern des Hirns deutlich entgegenwirkt.

Hierzu wurden 2 Gruppen von Mäusen in jeweils unterschiedlichen Umwelten gehalten. Eine Gruppe war in einem Standardkäfig untergebracht, die andere Gruppe in einem Käfig, der mit Tunnel und Plastikspielzeug ausgestattet war, einer „angereicherten“ Umgebung. Das Plastikspielzeug wurde einmal pro Woche neu arrangiert.

Nach Versuchsende, nach 14 Monaten, wurden die Gehirne der Versuchstiere verglichen. Hierzu wurden Proben aus der für unser Lernverhalten und Gedächtnis so wichtigen Hirnregion Hippocampus sehr genauen Analysen unterzogen. Es wurde untersucht, ob sich in den Mustern der DNA-Methylierung Unterschiede zwischen den Gruppen gezeigt hatten (die DNA-Methylierung ist ein epigenetischer Prozess; man kann die DNA Methylierungen als Regieanweisungen zur Regelung von Genaktivitäten verstehen, die die Zelle selbst schreibt; dieser Mechanismus spiegelt ganz wesentlich Alterungsprozesse wider); gleichermaßen wurde überprüft, wie ausgeprägt bei fortschreitendem Alter die Zellneubildung in dieser Gehirnregion noch war.

Die Ergebnisse waren frappant:

Der Einfachheit halber soll hier nur 1 Ergebnis aus der Publikation gezeigt werden:

Im Laufe des Alterns (Young => Aged) dreht sich bei der Kontrollgruppe das genomweite Methylierungsmuster nahezu um, es steht quasi auf dem Kopf (rote Muster).

In der angereicherten Umgebung wird dies beinahe komplett verhindert (blaue Muster)!

Es konnte auch gezeigt werden, dass bei den gealterten Mäusen bei allen Versuchstieren die Zellneubildung im Hippocampus stark abgenommen hatte. Dies ist schon lange bekannt.

Dann allerdings waren bei den Tieren, die in der angereicherten Umgebung gelebt hatten, im Vergleich zur Kontrolle die 3-fache Menge an neuen jungen Zellen nachzuweisen. Faktor 3 ist enorm.

 

Ein zusätzlich besonders schönes Ergebnis war, dass auch dann, wenn die angereicherte Umgebung erst im „Erwachsenenalter“ erfahren wurde, noch die Methylierungsmuster bei einem erheblichen Teil der Gene beeinflusst werden konnte, die im Zusammenhang mit dem hier beschriebenen Alterungsprozess auffällig gewesen sind.

Somit kann man vereinfacht sagen: es ist nie zu spät.

Das waren Mäuse. Ist dies aus biologischer Sicht auch für den Menschen relevant?

Natürlich haben sich die Forschenden die Frage gestellt, ob das, was sie gefunden haben, irgendeine Relevanz für uns Menschen hat.

Und auch hier sind ihre Versuchsergebnisse sehr aufregend. Sie konnten zeigen, dass eine Reihe der Gene, an denen die angereicherte Umgebung den Methylierungsänderungen entgegenwirkt, die durch den Alterungsprozess hervorgerufen werden, just zu den Gen-Gruppen gehören, die beim Menschen im Zusammenhang mit altersbedingtem kognitivem Rückgang (u.a. Alzheimer Krankheit) fehlreguliert sind.

Somit geben die Befunde, die aus den Versuchen mit den Mäusen gewonnen wurden, Grund zur Annahme, dass wir beim Menschen ähnliche Mechanismen vorfinden könnten.

 

Was dürfen wir daraus ableiten?

Eine angereicherte Umwelt verändert das Lebewesen, das in dieser Umwelt lebt. Angereichert bedeutete im Versuchsfalle Tunnel sowie Spielzeuge, die immer wieder neu angeordnet wurden.

Wie können wir dies auf unsere menschliche Situation übertragen?

Ich denke, dass wir einerseits durch unser Zutun viel dazu beitragen können, dass unser Leben der angereicherten Umgebung entspricht. Bewegung jeglicher Art scheint uns zu stimulieren.

Wir können uns ausprobieren, wir können Herausforderungen (kleine Hindernisse) suchen, die uns immer wieder in Lernsituationen bringen, die wir bewältigen können.
Es mag uns guttun, keine Vollpension zu buchen (auch im übertragenen Sinne), so dass wir uns die jeweilige Umgebung erschließen müssen. Es dürfte interessant sein, im Beruf uns auf Felder zu wagen, die wir heute noch nicht so gut beherrschen, die uns aber faszinieren.
Es könnte richtig spannend sein, unsere Lebensraum-Blase etwas auszuweiten und im Freundeskreis auch Leute zu haben, mit denen wir nicht komplett übereinstimmen. Und wir könnten den Autopiloten mal eine Weile parken und auf Entdeckungsreise gehen.

Andererseits könnten wir unsere Haltung zu den Wechselfällen des Lebens ändern. Manchen Ereignissen können wir nicht ausweichen, wir sollten sie annehmen und damit konstruktiv umgehen. Eine in die Brüche gegangene Beziehung, eine Niederlage im Beruf stehen häufig für einen erzwungenen Neuanfang, der durchaus zu neuen Horizonten führen kann.

Personen mit Handicaps gelingt es manchmal eindrucksvoll aus ihrer Schwäche eine Stärke zu machen. Migranten bzw. Flüchtlinge entwickeln eine ungeheure Energie, sich an dem neuen Lebensort einzufinden, Fuß zu fassen und ihr Glück zu machen.
Unserem Gehirn ist es egal, ob die angereicherte Umgebung aktiv angegangen wurde oder wir ihr einfach nicht ausweichen konnten, solange wir sie positiv integrieren können.

 

Warum steht dieser Blog hier, was hat dies alles mit Kunst zu tun?

Beim Photographieren auf den Straßen treffe ich immer wieder auf Menschen, die für mich das oben Ausgeführte verkörpern;

Sie sind für mich die personifizierte Bewegung, häufig Energie-Bündel, sie demonstrieren durch ihre bloße Präsenz, dass sie Mittel gefunden haben, dem Standard-Alterungsprozess entgegenzuwirken. Manchmal ist es auch nur die Ahnung, dass es so sein wird.

  

Meine Bilder zu diesem Thema:

Im Slalom durch die Welt

Wenn sich die Welt nicht schnell genug bewegt, so mache ich dies halt selbst.

 

Auf dem Weg nach oben

Ein junger Mann bedient freundlich und kompetent in einem Straßen-Kiosk. Er ist kontaktfreudig und kommt mit der diversen Kundschaft sehr gut klar. Auf Nachfrage erzählt er mir, dass ihm dies viel Spaß macht, dass er aber noch weitere 4 Jobs hat, unter anderem als Videoassistent an einem Theater. Sein souveränes Auftreten, seine Energie, verbunden mit einer großen Neugier sagen mir, dass er seinen Weg nach oben machen wird.

 

Der Weihnachtstrompeter

In der Adventszeit spielt ein Mann in der Fußgängerzone virtuos Trompete, beim Näherkommen sehe ich, dass er schon etwas älter ist. Ins Gespräch gekommen, erzählt er mir, dass er 88 Jahre alt ist. Da er unter der altersbedingten Makuladegeneration leidet, kann er keine Noten mehr lesen und spielt auswendig. Aufgrund seiner langen Jahre im Blasorchester macht ihm dies jedoch keine Probleme.

Mit 18 erkrankte  er schwer und fühlte sich durch eine Gesichtsoperation entstellt, was ihn sehr beschäftigt hat, da er sehr gerne eine Freundin gehabt hätte. Sein Beruf als Feinmechaniker war darüber hinaus kein Vergnügen, es war Akkordarbeit, der Zeitdruck war immer präsent. Da waren seine vielfältigen Aktivitäten, die Segelfliegerei, Abfahrtsski und der Musikverein seine Energiespender, hierbeistellte er sich bei all seinen Freizeittätigkeiten in den Dienst der jeweiligen Gemeinschaft, wie auch bei seinem Trompetenspiel. Ich hatte das Gefühl, dass ich einen äußerst vitalen und glücklichen Menschen getroffen habe

 

Wir ändern auch

Ein Bild am Rande des muslimischen Opferfestes in Gießen. Es mag uns daran erinnern, dass sich Dinge nicht ereignen, sie "passieren" nicht; wir selbst sind die Änderungsschneider in unserem Leben. Auch der junge Mann wird zum Schneider werden, auch er wird die Schere in die Hand nehmen und sich seine Welt zurechtschneidern.